Robert Pichler und Edit Pula führen mit ihrem Buch “Albania’s 90’s” ein in die turbulenten Jahre in Albanien, als das kommunistische Regime gestürzt wurde und eine neue Zeit mit Demokratie und Marktwirtschaft begann.
Wohl kaum ein Staat war nach dem zweiten Weltkrieg bis in die 80er hinein so isoliert wie Albanien. Der kommunistische Staat wurde von Enver Hoxha regiert, 40 Jahre lang, bis zu seinem Tod im Jahr 1985. Und so wie es auch im sozialistischen Jugoslawien war, das mit dem Tod seines Staatschef Josip Broz Tito zugrunde ging, war es auch in Albanien. Nach dem Tod des Diktators Enver Hoxha brachen turbulente Zeiten an, das Land befreite sich vom Sozialismus und machte sich auf in eine neue Ära.
Die Zeit der 90er in Albanien dokumentierte der Albanologe Robert Pichler mit seiner analogen Kamera. Zusammen mit Edit Pula hat er im Dezember 2020 das Buch „Albania’s 90’s“ herausgegeben. Es ist eine Zeitreise in ein Land des politischen Aufbruchs, bebildert mit den Fotos von Robert Pichler und begleitet von zahlreichen Texten von Menschen, die während der Zeit in Albanien gelebt haben oder das Land besuchen durften. Die Fotos wurden ursprünglich bei der Ausstellung „Flashbacks – Albania in the 90’s“ gezeigt, die zwischen 2017 und 2019 im ganzen Land unterwegs war. Anschließend ist daraus ein dickes Buch mit vielen Fotos und Anekdoten entstanden. Geschrieben auf Englisch und Albanisch.
„Albania’s 90’s“ nimmt seine Leser mit in ein unbekanntes Land. In ein Land, in dem es praktisch niemanden gab, der eine Kamera besaß. Robert Pichler war 1989 zum ersten Mal als Student in Albanien zu Gast. Das Land war unter seinem kommunistischen Regime weiterhin abgeschottet von der Welt. Nur wenige Touristen durften ins Land und die mussten dann auch bei der Einreise ihre langen Haare abrasieren. Robert Pichler hatte Glück – er war für sein Studium auf einer Forschungsreise unterwegs und musste nicht zum Friseur.
Er kam in ein Land, in dem es den Einheimischen verboten war, mit Ausländern zu sprechen. In ein Land, das bitterarm war und heute nach wie vor ist. Der Fotograph Pichler reiste mit geführten Touren an der Küste entlang, ins Hinterland, nach Durrës, Tirana, Gjirokastra. In Gegenden, in denen fast nie Ausländer gesehen werden, in denen keine Fotographien existieren.
Nach seiner ersten Reise trieb es Robert Pichler noch dutzende Male nach Albanien. Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes begleitete er den Weg des Landes in Richtung Demokratie, in Richtung freie Marktwirtschaft. Und er begleitete die Zeit, in der hunderttausende Menschen das Land in Richtung Europa verließen.
Das Buch, das auch schon ein haptisches Erlebnis ist, führt durch diese turbulenten Zeiten. In 33 Kapiteln kommen die vielen Menschen zu Wort, die damals in Albanien lebten und zu Besuch waren – es sind also zwei Perspektiven, mit denen den vielen Aufnahmen eine Sprache gegeben wird.
Die Autorinnen und Autoren von „Albania’s 90’s“ führen die Lesenden ein in ein Land der Gastfreundschaft. Das Interesse an Ausländern war schon riesig, als es noch verboten war, mit ihnen zu sprechen. Und auch nach der Öffnung des Landes waren Touristen und Reisende die Gäste der ganzen Bevölkerung. Ausländer werden täglich zum Kaffee eingeladen, sie müssen nicht Anstehen vor der Bäckerei oder Telefonzellen, sie werden einfach so zum Essen eingeladen.
Die Fotos, teilweise in schwarz-weiß und teilweise in Farbe aufgenommen, zeigen Albanien aus dem Blick eines Ausländers, aus einem „tourist gaze“, also einem touristischen Blick, der manchmal gestellte Szenen und manchmal die vielen natürlichen Alltagsszenen mit der Kamera einfängt.
Robert Pichler führt mit seinen Fotos ein in die albanische Gesellschaft, in den Kanun, in Hochzeiten und Blutsbrüderschaften, in Kindheit und Traurigkeit und in die Freude, Bilder aus den 90ern wieder zu entdecken. Deswegen hat das Buch wohl auch einen großen Wert für die Menschen, die in Albanien wohnen. Und für all jene, die in Zeiten des Fernwehs auf der Suche nach neuen Kulturen und Gesellschaften sind.
„Albania’s 90’s“ von den Herausgebern Robert Pichler und Edit Pula ist im Dezember 2020 bei „bahoe books“ in Wien erschienen. 336 Seiten kosten 24 Euro.